Mann, Thomas: Der tod in Venedig

Gustav von Aschenbach, ein erfolgreicher Schriftsteller, reist zu Erholung nach Venedig. Schon der Weg dorthin steht unter keinem guten Stern, vielorts ist die Todessymbolik zu erkennen. Am Abend seiner Ankunft erblickt er im Hotel den jungen Tadzio, gottgleich in seiner Schönheit, wie er Aschenbach erscheint. Im Laufe seines Aufenthalts in dieser Nobelherberge am Lido von Venedig entwickelt Aschenbach eine starke Zuneigung zu dem Jungen: er verfolgt ihn mit Blicken am Strand und auch in der Stadt Venedig selbst, wenn Tadzios Familie dorthin zur Messe fährt. Aschenbachs Verhalten ist durchaus obsessiv, heute würde man es "stalken" nennen.

Aber die Stadt verändert sich, Karbolgeruch hängt in der Luft. Die Cholera ist in der Lagune, die Behörden versuchen dies zu vertuschen, um die Geschäfte der Hoteliers nicht zu stören. Aschenbach bleibt, wohlwissend, dass das sein Ende sein kann, denn er kann nicht vom Anblick des jungen Tadzio lassen. Am Tag der Abreise Tadzios stirbt Aschenbach, allein zurückgelassen in seinem Liegestuhl am Strand.

Mann verarbeitete seine eigenen homoerotischen Neigungen in dieser Novelle, darüber geben seine Briefwechsel beredt Auskunft. Die Novelle ist ästhetisch ein Meisterwerk, Mann gelingt es, die fröhliche Ferienstimmung von Anfang an unter einen bedrohlichen Bogen zu stellen, nichts ist definitiv, aus lachenden Gesichtern werden in Sekundenschnelle Fratzen, Erdbeeren zu Todesbringern. Manns Sprache ist in seiner Ziselierung das perfekte Pendant zum barocken Überschwang, in dem sich die Stadt damals so wie heute präsentiert.

Ein zeitloses Meisterwerk.

Melle, Thomas: "3000 Euro" - Scheitern, Level hardcore

3000 Euro - für Anton die vermeintliche Rettung aus seiner Lage, in die er infolge eines manischen Schubes gekommen ist, denn so hoch sind seine Schulden nun, das ist der Betrag, der ihn in der in wenigen Tagen stattfindenden Gerichtsverhandlung retten könnte. Anton ist ehemaliger Student der Juristerei und lebt nun nach seinem Zusammenbruch in einem Obdachosenheim, noch immer nicht ganz frei von seinen Wahnvorstellungen

3000 Euro - das Honorar, das Denise für einen Pornodreh in Aussicht gestellt wurde, ein Betrag mit dem sich endlich auch einmal ein wenig Luxus ausgehen könnte für sie und ihre verhaltensauffällige Tochter, die sie allein und ständig überfordert in ärmlichen Verhältnissen erzieht. Denise ist Supermarkt-Kassierin, prollig aber nicht unsymphatisch, und auch sie hat Wahnvorstellungen: dass sie erkannt wird auf der Straße von Männern, die den Porno mit ihr gesehen haben.

Die beiden lernen sich an der Supermarkt-Kasse kennen und mögen, Liebe kann sich nicht entwickeln, dazu sind beide zu instabil. Das Ende bleibt offen und der Phantasie der LeserInnen überlassen.

3000 Euro - ein Betrag, der wenig beeindruckt, wenn man mit beiden Beinen im Leben steht, jedoch einer, von dem man glauben kann, dass er das Leben verändert, wenn das eigene Leben nicht auf (wenigstens scheinbar) stabilen Fundamenten ruht. Denise weiß, dass Anton genau diesen Betrag benötigt, doch sie ist nicht bereit, ihn ihm zu überlassen, weil sie weiß, dass Anton dadurch nicht wirklich gerettet werden wird, zu tief steckt er in seinem persönlichen Treibsand drin, und weil sie ihren Traum, einmal nach New York zu fahren, nicht platzen lassen will. Auch ihr schlechtes Gewissen, das sie ob der Amoralität des Pornodrehs hat, kann ihren Entschluss, das Geld zu behalten, nicht ins Wanken bringen.

Falls Sie das Buch noch nicht gelesen haben, dann rate ich Ihnen, vorher Melles autobiographisches Buch "Die Welt im Rücken" zu lesen: denn dieses ist der Schlüssel zu einem weitaus besseren Verständnis von "3000 Euro". In der "Welt im Rücken" beschreibt Melle seinen eigenen manisch-depressiven Leidensweg, der ihn persönlich ebenso an den Rand der Existenz gedrängt hat wie es mit Anton geschieht. Die Person Antons und seine Funktionsweise und Gedankenwelt werden viel klarer mit der vorherigen Lektüre der "Welt im Rücken". Auch das Abrücken der Umwelt, der Bekannten und Freunde von der betroffenen Person, die sich daraus ergebende Isolation, die alles noch schlimmer macht, wird darin eindrucksvoll beschrieben - so wie es auch Anton erlebt. Wie eine solche Person dann aus dem Radar der ehemaligen Freunde und Bekannten verschwindet, wie immer weniger an sie gedacht wird, bis sie endlich keinen Platz mehr in der Gedankenwelt hat, das demonstriert Melle im letzten Kapitel eindrucksvoll. Ich war beim Lesen den Tränen nahe.

Ja, die Geschichte selbst ist trostlos. Aber ich fand sie hervorragend aufgebaut und geschrieben. Das Leben ist kein Ponyhof, auch weil die meisten von uns so agieren, wie Melle es beschreibt angesichts des Ausklinkens von Menschen aus dem, was wir Normalität nennen.

 

(Gelesen und besprochen 2018-02)

Melle, Thomas: "DIe welt im Rücken" - Beeindruckend

Ich kannte Thomas Melle bisher nur von der Wahrnehmung der Platzierung seines Buches "3000 Euro" auf der Shortlist eines Deutschen Buchpreises der vergangenen Jahre, interessierte mich aber weiter nicht dafür, wohl auch aus Uninformiertheit. Als vor Kurzem Joachim Meyerhoff in einem Interview von der "Welt im Rücken" schwärmte, war mein Interesse aber geweckt.

Melle erzählt von den drei manisch-depressiven Wellen, die über sein Leben hereingebrochen sind und ihn und sein bisheriges Leben zerstört haben. Eindrucksvoll beschreibt er, wie er in der Manie alles auf sich bezieht, wie alles einen Konnex und eine Ursache zu und in ihm zu haben scheint, wie er dann in der Depression versinkt, die ihn dermaßen verschlingt, dass er nur deshalb nicht Selbstmord begehen kann, weil er selbst dazu zu antriebslos ist. Nach dieser ersten Erfahrung mit der Krankheit erholt er sich, es scheint überstanden zu sein, doch Jahre später geht es erneut los, in einer Intensität, dass er die Spätfolgen (Unterstandslosigkeit, Armut) nur schwer beseitigen kann. Und dann nochmals, und die latent immer vorhandene Bedrohung durch die Krankheit, die das derzeitige normale Leben jederzeit wieder ins Kippen bringen kann.

Das Buch erzählt damit aber nicht nur die Geschichte von Thomas Melle sondern schaffte bei mir auch Bewusstsein und Verständnis für diese Menschen, denen man manchmal z.B. in der U-Bahn begegnet und die man - und da nehme ich mich gar nicht aus - oftmals einfach als "schon wieder so ein Verrückter" abstempelt und sich anschließend versucht so hinzusetzen, dass man die Auffälligkeiten dieser Person nicht wahrnehmen muss. Nicht dass ich jetzt glaubte, es helfe einem Menschen mit diesem Krankheitsbild unmittelbar, wenn man ihn anders wahrnimmt, aber Verständnis für die Notlage eines Mitmenschen ist ja schließlich nie falsch, auch wenn man als Außenstehender nur bedingt oder nicht helfen kann.

 

(Gelesen 2018-02)

Menasse, Robert: "Die Hauptstadt" - Gegen den Nationalismus

In starker Parallelität zu Robert Musils "Mann ohne Eigenschaften" soll im Roman "Die Hauptstadt" eine symbolische Feier zum Jubiläum der Kommission gefunden werden - doch der Weg dorthin ist ebenso unabsehbar wie verwinkelt wie die europäische Bürokratie eben ist und arbeitet. Diese teilweise absurde Funktionsweise, den Sand im Getriebe, das Kompetenzgewirr, alles zumindest mitverursacht durch persönliche Karrierebestrebungen, mitgliedsstaatlich-wirtschaftliche und andere Eigeninteressen, Nationalstolz und andere Störfaktoren, deren Verfolgung man immer nur den anderen vorwirft, beschreibt Menasse in diesem gelungenen Roman anhand unterschiedlichster Personage: EU-Politiker natürlich, Polizisten, Schweinezüchter, Auschwitz-Überlebende, emeritierte Professoren. Und einem echten Schwein, so eins mit Ringelschwanz.

Bei einer Lesung aus der "Hauptstadt" erzählte Menasse, er habe mehrere Jahre in Brüssel gelebt in Vorbereitung dieses Romanes, sei immer wieder eingeladen worden zu Veranstaltungen, teilweise selbst als Vortragender. Diesen Umstand kann man leicht erkennen: hier schreibt einer von den Eingeweiden der EU, der sich darin auskennt wie ein Arzt im Inneren des menschlichen Körpers. So seziert und zerlegt Menasse den EU-Leib auch, zeigt seine Fehler und Leiden und vor allem aber die Ursache all der Missstände: die nationalen Interessen der Mitgliedsländer. Dies beschriebt Menasse in diesem sowohl unterhaltsamen wie auch informativem Roman auf höchst interessante Weise.

Wiewohl Menasse viele Fehler der EU aufzeigt, ist er doch überzeugter Europäer und EU-Befürworter und engagierter Bekämpfer des wiederkeimenden Nationalismus, der all die Bemühungen der letzten Jahre und den jahrzehntelangen Frieden bedroht. Auch das ist in diesem Roman spürbar.

(Gelesen 2017-10)

Menasse, Eva: Tiere für Fortgeschrittene

Weltklasse


Unmittelbar vor diesem Buch las ich Doris Knechts "Alles über Beziehungen". So verfehlt dieser Titel bei Knechts enttäuschendem Buch ist, so gut passte er zu "Tiere für Fortgeschrittene". Mit Andeutungen, Sarkasmus und schräg gesetztem Blick zerkratzt Menasse hochpolierte Oberflächen und gewährt so Eindrücke ins Innenleben der ProtagonistInnen Ihrer Geschichten, die mich in einer Weise packten, dass ich oftmals die Zeit um mich herum vergaß.

"Tiere für Fortgeschrittene" ist ebenso kein zoologisches Buch wie "Quasikristalle" mit Geologie zu tun hatte, lassen Sie sich also nicht vom Titel abschrecken. Wenn man den Menschen als das fortgeschrittenste Tier auf der Welt sieht (fortgeschritten allerdings nicht im positiven Sinn, "fort" nämlich im Sinne von "weg", weg von der restlichen Natur), dann ist der Titel auch schon wieder Programm. Rücksichtslos jagt er durch seine Reviere und hinterlässt verbrannte Erde. Die knappe Sprache der Geschichten, die teilweise an Aktualität nicht zu überbieten sind, tat ein Übriges um mich an die Geschichten zu fesseln; ein Wiederlesen in naher Zukunft ist vorprogrammiert.

MeYERHOFF, Joachim: "Die Zweisamkeit der Einzelgänger"

Jeder hier in Wien, der Burg- und Akademietheater auch von innen kennt, liebt Joachim Meyerhoff, der zwei Stunden auf der Bühne stehen und Monologstücke von beeindruckender Länge und in in Erinnerung bleibender Intensität abspulen kann. Ich wähle das Wort abspulen deshalb, weil er selbst schwierigste Texte wie zum Beispiel solche von Thomas Bernhard so spricht, als wärs der alte Grantler selbst, der da spricht. Es geht ihm mit so einer Leichtigkeit von der Hand, dass man nur gespannt dasitzt und staunt.

Mit ähnlicher Leichtigkeit geht ihm das Erzählen aus seinem Leben von der Hand. Schauspieler, besonders solche von der Qualität Meyerhoffs, führen vermutlich keine durchschnittlichen Leben, daher ist das frühe Theater- und Liebesleben, welches er im vierten Band seiner Autobiographie augenzwinkernd darlegt, auch nicht das, was die meisten von uns LeserInnen in ihren jungen Jahren erlebt haben werden.

So unterhält er drei Liebesbeziehungen gleichzeitig: eine für den Geist mit der Germanistik-Studentin Hanna, eine zweite für die Lust mit der Tänzerin Franka und schließlich eine dritte für das Fleisch mit der Bäckerin Ilse. Diese Dreigleisigkeit, die zumindest ich bei jedem anderen Mann mit ordentlichenen Portionen Moralanspruch und Fairnessgedanke verurteilen würde, läßt man Hrn. Meyerhoff aber durchgehen, denn er mag die drei ja alle wirklich sehr, ist gut zu ihnen und auch gut für sie. Dass diese Vierecks-Geschichte mit allerlei Verwicklungen und Nöten einhergehen muss ist klar, es kommt zu skurrilen Situationen, in denen ich mich dabei ertappte, zu hoffen, dass es sich doch noch einmal ausgeht, dass er nicht erwischt wird in seiner Untreue - nein das ist das falsche Wort, denn er ist ja allen dreien treu.

Manches ist allerdings in einer Länge dargestellt, niedergeschrieben von einem Menschen mit ausufernder Energie und unbremsbarem Mitteilungsbedürrfnis, was durchaus auch gekürzt hätte werden können. Das ist aber eher dem Lektorat vorzuwerfen. Insgesamt war es eine Freude, darin zu lesen, und weil ich mir keine tiefschürfenden Gedanken (z.B. zur Theaterwelt) erwartet habe, bin ich auch nicht enttäuscht, im Gegenteil. Literarisch leichte Kost an den Weihnachtstagen, wo das gehaltvolle ohnehin am Teller liegt.

 

Gelesen 2018-01