W - WINKLER

Winkler, Josef: "Lass dich heimgeigen, Vater"

Seit vielen Jahren habe ich nichts mehr von Josef Winkler gelesen, irgendwann habe ich damit aufgehört. Immergleich war der Inhalt, das enge Dorf Kamering, im dem jeglicher Geist keinen Platz fand, zu sehr war man mit sich selbst beschäftigt, mit dem Überleben, mit den eigenen Ritualen und Vorurteilen. Nun aber dieses Buch: "Lass dich heimgeigen, Vater, oder Den Tod ins Herz mir schreibe". Sperrig der Titel, sperrig auch hier wieder der Inhalt: Winkler hat vor wenigen Jahren erfahren, dass auf dem "Sautratten", einem dörflichen Gemeinschaftsfeld, auf dem Roggen fürs Schwarzbrot und Weizen fürs Weißbrot und Hafer für die Pferde angebaut wurde, der Nazi-Massenmörder Odilo Globotschnigg nach seinem Suizid bei seiner Gefangennahme durch britische Soldaten verscharrt wurde, sodass man jahrelang mit dem dort angebauten Gertreide auch sozusagen den verwesenden Massenmörder mitgegessen hat. In einer endlosen, kreisenden Suada klagt Winkler seinen mittlerweilen verstorbenen Vater deshalb an, dass er davon nie etwas erzählt habe, wo er doch, wenn überhaupt, ständig über den Krieg gesprochen habe, der für ihn insoferne etwas großes gewesen ist, als es die einzige Gelegenheit war, das Dorf zu verlassen und etwas zu "erleben". So ist die Erinnerung an den Krieg, die der Vater gemeinsam mit Bruder und Schwager fast romantisch pflegt, beinahe das einzige, was Winkler als Kind neben Drohungen und Flüchen aus des Vaters Mund vernimmt. Die Mutter ist ihm keine Hilfe, sie ist verstummt und unfähig, ihre Liebe zu zeigen, seit ihre drei Brüder im Krieg gefallen sind. Und auch sonst steht der junge Winkler Sepp allein da, mit seinen verdächtigen Interessen nach Büchern und Bildung wird er in der dumpfen, von patriarachalischer Gewalt und katholischer Engstirnigkeit geprägten Dorfgemeinschaft, die eigentlich keine ist, als Fremdkörper betrachtet.

 

Ein beklemmendes Buch, formal interessant, der Sog der Sprache scheint mit jedem Kapitel stärker zu werden, ich konnte mich ihr immer weniger entziehen. Jedes Kapitel ist mit einer Strophe des Jockel-Gedichtes von Fontane und jiddischer Lieder überschrieben, kennzeichnend sind viele Elemente der variierenden Wiederholung, besonders was, und das ist schließlich das zentrale Element des Buchs,  die Rolle von Globotschnigg und dessen Verscharren auf dem "Sautratten" betrifft, den man durch das Brotgetreide, das auch durch die verwesenden Bestandteile des Massenmörders wächst, zu sich nimmt. Das ganze erinnert mich an diese Theorie, die besagt, dass sich die Reste eines menschlichen Körpers, also vor allem des Wassers, spätestens 100 Jahre nach dessen Tod so auf der Erde verteilt haben, dass in der Folge jeder Mensch mindestens ein Molekül aller Menschen, die bisher gelebt haben, in sich hat. 

 

"Als ich dir einmal auf dem Titelblatt einer Illustrierten den lebensgroß abgebildeten Schädel von Hitler gezeigt habe ... hast du gelacht und zärtlich gerufen: 'Der Adolf!'. Hättest du mich nur einmal so zärtlich gerufen, aber wie oft habe ich nur den strengen Ruf gehört: 'Sepp!'". (Seite 156) - Der Vater spricht des größten Verbrechers der Gegenwart Namen immer zärtlicher aus als den Namen des eigenen Sohnes, nie erfährt er diese oder irgendeine andere Form väterlicher Zuneigung. Zum Heulen. Zum Heulen auch, dass heute noch immer und wieder Menschen diesem Weltbild zu folgen bereit sind.

 

Absolute Leseempfehlung, am besten allerdings an sonnigen Tagen.

 

Gelesen 2018-03